Vorpubertät verstehen: Wie du dein Kind optimal begleiten kannst
Die Vorpubertät markiert den Übergang vom Kindsein zur Jugend. Wie du dein Kind in dieser Phase unterstützen kannst, erklärt unsere Expertin.

Wenn die "Wackelzahnpubertät" (auch als "Sechs-Jahres-Krise bezeichnet) überstanden ist, steht schon die nächste Entwicklungsphase in den Startlöchern: Die Vorpubertät. Vielleicht hast du erste Anzeichen dafür bei deinem Kind schon bemerkt: Es braucht zwischendurch viel Nähe, doch immer häufiger grenzt sich deine Tochter oder dein Sohn von dir ab, spielt nicht mehr so oft mit Lego und Co., sondern sucht sich neue Beschäftigungen.
Was genau hinter der Vorpubertät steckt, wie sie sich im Verhalten äußert und wie du dein Kind in dieser Phase unterstützen kannst, erklärt Familiencoachin Julia Mensing.
Was genau ist die Vorpubertät?
Die Vorpubertät markiert laut dasAuslaufen der physischen Kindheit bis zur Pubertät. "Die Vorpubertät ist eine Übergangszeit, in der Kinder sich innerlich neu sortieren", erläutert Julia Mensing. "Es ist eine Zeit enormer innerer Umstrukturierung – körperlich, emotional und neurologisch."
Neben der Vorpubertät gibt es noch den Begriffen der "frühen Pubertät". Darunter versteht man das vorzeitige Auftreten sekundärer Geschlechtsmerkmale, wie Brustdrüsenwachstum, Hodenwachstum, Schamhaarwachstum.
Wann beginnt die Vorpubertät und wie lange dauert sie in der Regel?
Wie so häufig gibt es auch bei dieser Phase keinen exakten Anfang und Ende. Vielmehr ist die Vorpubertät ein fließender Übergang, der sich über mehrere Jahre ziehen kann und in der Pubertät endet.
"Die Vorpubertät beginnt meist zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr, kann aber individuell unterschiedlich einsetzen – bei manchen Kindern auch schon mit sieben Jahren", erklärt Julia Mensing. "Sie beginnt nicht von einem Tag auf den anderen, sondern schleicht sich langsam ein."
Anzeichen der Vorpubertät
Für Eltern fühlt sich die Vorpubertät manchmal an, als würde ein anderes Kind in der Familie wohnen. "Das sonst ausgeglichene Kind wird plötzlich launisch, empfindlich oder zieht sich sogar zurück. Das sind alles Anzeichen des inneren Umbruches", sagt Julia Mensing. Die Familiencoachin hat die wichtigsten Merkmale zusammengefasst:
Emotionale und geistige Abnabelung von den Eltern: Kinder fangen an, sich zu hinterfragen. Das ist der erste Schritt in Richtung Selbstständigkeit und Identitätsbildung. Sie wollen nicht mehr alles ungefragt hinnehmen, sondern beginnen Dinge zu hinterfragen und diskutieren gerne. Das kann für Eltern herausfordernd sein, ist aber ein wichtiger Teil des Erwachsenwerdens.
Die Fragen nach Zugehörigkeit, Gerechtigkeit und Sinn tauchen verstärkt auf: Ein Kind stellt Regeln infrage, möchte mitbestimmen, schwankt zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Bedürfnis nach Rückzug. Es braucht Orientierung, denn das Außen – Schule, Freundschaften, Körperveränderungen – wird unübersichtlicher.
Starke Stimmungsschwankungen: Ein Kind, das eben noch kichernd auf dem Sofa lag, kann im nächsten Moment wütend lospoltern, weil das falsche T-Shirt gewaschen wurde. Dahinter steckt keine böse Absicht, sondern ein Gehirn, das gerade neu verdrahtet wird und Emotionen oft noch nicht gut regulieren kann. Ein weiteres Beispiel: Dein Kind möchte plötzlich allein zur Schule gehen und Mama oder Papa dürfen zum Abschied keinen Kuss mehr geben, weil das dem Kind peinlich ist.
Wachsender Wunsch nach Privatsphäre: Das Kind schließt die Zimmertür, möchte nicht mehr alles erzählen, reagiert empfindlicher auf Einmischung der Eltern. Das ist kein Rückzug im negativen Sinn, sondern ein gesunder Schritt in Richtung Autonomie. Ein Kind in der Vorpubertät beginnt, sich innerlich von den Eltern zu lösen – nicht, weil es uns nicht mehr liebt, sondern gerade, weil es in einer stabilen Beziehung die Sicherheit hat, sich in die Welt hinauszuwagen.
Es gibt Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, die sich in der Vorpubertät befinden. "Aber diese sind nicht unbedingt biologisch, sondern eher gesellschaftlich geprägt", erklärt Julia Mensing.
Mädchen kommen oft früher in die Vorpubertät als Jungen. "Gleichzeitig bekommen Jungen gesellschaftlich oft weniger Erlaubnis, emotional zu sein", so Mensing.
Mädchen grübeln, zweifeln und diskutieren eher, Jungs verhalten sich häufiger unruhig oder aggressiv. "Letztlich reagiert aber jedes Kind anders in der Vorpubertät – unabhängig vom Geschlecht", sagt die Familiencoachin.
So kannst du dein Kind in der Vorpubertät begleiten
Kinder in der Vorpubertät entwickeln sich weiter und verhalten sich daher anders als früher. "Als Eltern dürfen wir sie genau dabei begleiten", erklärt Julia Mensing. "Die wichtigste Grundlage ist: Beziehung statt Erziehung. Kinder in der Vorpubertät brauchen vor allem eines – gesehen, gehört und ernst genommen zu werden." Das erfordere Verständnis, Klarheit und eine große Portion Geduld, so die Familiencoachin.
Mit diesen Tipps von Julia Mensing meistert ihr gemeinsam die Vorpubertät:
Aktives Zuhören: Richtiges Zuhören bedeutet, dass Handy nicht in der Hand zu haben oder nebenbei den Geschirrspüler auszuräumen. Sondern wirklich präsent sein, Blickkontakt zum Kind halten und ihm die volle Aufmerksamkeit schenken – auch, wenn es manchmal nur um "Kleinigkeiten" geht oder wir selbst gerade müde sind. Kinder spüren sofort, ob wir wirklich da sind oder nur körperlich anwesend.
Kommunikation: Kinder wollen mitreden, nicht übergangen werden. Gerade in der Phase der Vorpubertät verändert sich ihr Bedürfnis nach Autonomie. Sie wollen mitentscheiden – nicht, weil sie uns ärgern wollen, sondern weil sie wachsen. Und das bedeutet auch, dass wir ihnen mehr zutrauen dürfen. Häufig meinen wir zu glauben, was unser Kind braucht. Stattdessen rate ich dazu, öfter zu fragen: „Was brauchst du gerade?“. Als Eltern können wir dabei trotzdem den Rahmen vorgeben. Kinder haben aber oft selbst gute Ideen, um etwas zu lösen oder sind kooperativer, wenn sie das Gefühl bekommen, dass ihre Meinung auch den Familienalltag mitgestalten kann. So können wir die Selbstwirksamkeit fördern und ein Gefühl der Verantwortung vermitteln.
Rituale: Regelmäßige, gemeinsame Mahlzeiten ohne Bildschirm stärken die Bindung. Ein kurzer Tagesrückblick am Abend („Was war heute schön, was war schwierig?“), Spaziergänge zu zweit, feste Gesprächszeiten – das alles sind Anker, die Kindern in der Vorpubertät (aber auch davor und danach) Halt geben.
Selbstfürsorge der Eltern: Diesen Punkt thematisiere ich auch in meinen Beratungen. Die Vorpubertät kann für Eltern anstrengend und emotional sein. Sich austauschen, Pausen machen und Zeit für sich einräumen, ist essentiell. Denn all die Ratschläge und Tipps können wir nur umsetzen, wenn wir stabil sind. Sobald wir im Stresssystem sind, kann ich als Mutter oder Vater auch nicht mehr präsent sein und das Kind Co-regulieren*."
Co-Regulation bei Kindern bedeutet, dass du als Bezugsperson deinem Kind hilfst, seine Emotionen zu verstehen und zu regulieren. Das gelingt, indem du selbst ruhig und präsent bist und deinem Kind ein Gefühl von Sicherheit vermittelst. Benenne die Gefühle deines Kindes ("Du bist wütend/traurig/enttäuscht/etc.") und nehme seine Bedürfnisse wahr. So unterstützt du es dabei, mit schwierigen Emotionen umzugehen.

Julia Mensing ist ausgebildete Familiencoachin auf selbstständiger Basis und arbeitet nebenbei im Familienzentrum Vennmühle. Ihr Fokus ist die bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung mit Klarheit und Herz. "Bedürfnisorientiert heißt für mich nicht, dass immer alles harmonisch laufen muss – sondern dass wir versuchen, die echten Bedürfnisse hinter dem Verhalten zu verstehen. Von Kindern und genauso von uns Erwachsenen."
Mehr Informationen zu Julia und ihren Angeboten findest du unter: https://www.juliamensing.de/
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